„Das Helfen fällt jetzt leichter“

Interview: So greift die Pflegereform in der Praxis

Seit Jahresbeginn gilt ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff. Statt wie bisher drei Pflegestufen gibt es jetzt fünf Pflegegrade. Neben körperlichen Beeinträchtigungen werden auch die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz, geistigen oder psychischen Einschränkungen stärker berücksichtigt. Sylke Ristow von der BKK Diakonie sieht in dem Systemwechsel eine deutliche Verbesserung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen.

Was hat sich verändert und wo liegen die Vorteile?

Ristow: Pflegebedürftige bekommen jetzt früher und einfacher Unterstützung. Die Reform eröffnet deutlich mehr Menschen einen Zugang zu Leistungen aus der Pflegeversicherung. Auch das Begutachtungssystem, mit dem der Pflegegrad ermittelt wird, ist differenzierter und gerechter geworden. Bislang erfasste der Medizinische Dienst (MDK) den Hilfebedarf in Minuten. Gemessen wurde, wie viel Zeit ein Mensch Hilfe zum Beispiel beim Waschen, Anziehen oder Essen benötigte. Beim neuen Verfahren wird jetzt geschaut, wie selbständig ein Mensch ist und wie gut er den Alltag alleine bewältigen kann, und zwar nicht nur körperlich, sondern auch psychisch und geistig. Das ist ein ganzheitlicher Blick. Hilfen können früher einsetzen, besser auf den Bedarf abgestimmt und in Anspruch genommen werden. Wir haben zum Beispiel Fälle, die im November abgelehnt und jetzt, mit dem neuen Verfahren, bewilligt wurden.

Gibt es auch mehr Leistungen und Geld?

Ristow: Ja, die meisten Pflegebedürftigen, die 2016 schon Leistungen aus der Pflegeversicherung bekamen, erhalten jetzt mehr Geld. Niemand wurde durch die Umstellung schlechter gestellt. Außerdem ist die Versorgung mit Hilfs- und Pflegemitteln leichter geworden. Pflegebedürftige können Angebote zur Unterstützung im Alltag und Betreuungsangebote wie Tages- und Nachtpflege flexibler nutzen. Auch die Pflegeberatung wird weiter ausgebaut.
Familien, die sich um die Pflege kümmern, sind oft besonders belastet.

Gibt es auch für sie Verbesserungen?

Ristow: Auch für die ambulante Pflege im häuslichen Bereich ist das Pflegegeld erhöht worden. Außerdem sind pflegende Angehörige jetzt sozial besser abgesichert. Sie sind unfallversichert, und ab zehn Stunden wöchentlicher Pflege zahlt die Pflegeversicherung Beiträge zur Rentenversicherung. Bislang war die Voraussetzung für diese Leistungen eine wöchentliche Pflege von mindestens 14 Stunden. Steigt ein Angehöriger für die Pflege aus dem Beruf aus, zahlt die Pflegekasse auch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Das stärkt Familien.

Gibt es auch Nachteile oder Verlierer?

Ristow: Aus meiner Sicht nicht. Allerdings zeigt sich, dass der Informationsbedarf sehr hoch ist. Wir bekommen viele Anfragen. Oft wissen die Ratsuchenden nicht, ob sie einen Anspruch auf Leistungen haben und welche Anträge zu stellen sind.

Wie hat die Umstellung bei der BKK Diakonie geklappt?

Ristow: Es war schon ein großer Kraftakt. Wir haben im Jahr 2016 alle Pflegeleistungsempfänger angeschrieben, das waren rund 800 Versicherte. Jeder Einzelfall wurde bewertet und in die neuen, höheren Pflegegrade übergeleitet. Seit Jahresbeginn verzeichnen wir nun eine deutlich steigende Zahl von Neuanträgen. Betroffene müssen darum mit Wartezeiten bei der Begutachtung durch den MDK rechnen, der für alle gesetzlichen Krankenkassen zu¬ständig ist. Das Pflegegeld wird aber rückwirkend zum Datum der Antragstellung gezahlt.

Was sollten Betroffene tun, wenn sich in der Familie eine Pflegebedürftigkeit anbahnt?

Ristow: Das Fachteam der BKK Diakonie informiert und hilft weiter, ein Anruf bei uns genügt. Wir verschicken auch den Antrag auf Leistungen zum Ausfüllen und fügen diesem Antrag einen Gutschein für eine kostenlose weitergehende Beratung bei. Viele Familien sind unsicher, was im Pflegefall auf sie zukommt. Schaffen sie die Pflege zu Hause? Welche unterstützenden Möglichkeiten gibt es? Vielleicht ist die Pflege mit Hilfe eines Pflegedienstes realistisch, also eine Kombination aus Pflegesach- und Pflegegeldleistungen. All diese Fragen werden in der professionellen Beratung angesprochen. Jede Familie muss im Pflegefall einen eigenen Weg finden. Dabei wollen wir die Betroffenen mit Rat und Tat unterstützen. Dieses Helfen fällt uns mit dem neuen Gesetz jetzt leichter.