„Wer seine Grenzen annimmt, kann gelassener werden“

Nobody is perfect – Optimierungswahn ist kein Garant für Erfolg.
Die Gesellschaft scheint einem Optimierungswahn verfallen zu sein: Jeder will besser, klüger, schneller und schöner als die anderen sein. Was verbirgt sich hinter diesem Trend? Wo sind die Gefahren? MENSCH sprach darüber mit Ulrich Kober, Bildungsexperte bei der Bertelsmann Stiftung in Gütersloh. Kober hat Theologie und Philosophie studiert und ist Mitglied des Jesuitenordens.

Interviewer: Die Bertelsmann Stiftung hat kürzlich herausgefunden, dass viele Schüler Nachhilfe auch bei befriedigenden bis sehr guten Leistungen bekommen. Ist das ein Zeichen für den zunehmenden Optimierungswahn in unserer Gesellschaft?
Ulrich Kober: Ich sehe darin eher die Ängste vieler Eltern, dass ihre Kinder möglicherweise mit nur befriedigenden Noten den Anschluss verpassen. Viele Fächer an begehrten Unis kann man heute nur mit einem Abi-Durchschnitt im hohen Einser-Bereich studieren. Der Drang nach immer besseren Noten liegt meines Erachtens weniger in einem Optimierungswahn, sondern im Wunsch, sich im allgegenwärtigen Konkurrenzdruck in Wirtschaft und Gesellschaft besser zu positionieren.

Interviewer: „Keine halben Sachen machen“, lautet eine häufig gebrauchte Redewendung. Warum haben viele Menschen heutzutage das Bestreben, möglichst perfekt zu sein?
Ulrich Kober: Sich einer guten Sache mit Haut und Haaren verschreiben und dabei das Beste erreichen zu wollen, ist an sich nichts Schlechtes, im Gegenteil: Das kann große Kräfte freisetzen und zu wunderbaren Leistungen befähigen. Die Gefahr dabei ist, eigene Grenzen zu missachten und im Extremfall über Leichen zu gehen. Der Leistungsdruck ist für viele heute größer, weil sie glauben, in ei¬ner globalisierten, auf Schnelligkeit und Effizienz setzenden Wirtschaft werde immer mehr gefordert.

Interviewer: Ist das Streben nach Optimierung ein Garant für Erfolg?
Ulrich Kober: Erfolg ist zweifelsohne etwas Erfüllendes, aber er hängt oft gar nicht allein von unseren Bemühungen ab. Da gibt es externe Faktoren, die ich gar nicht oder nur bedingt beeinflussen kann. Wer glaubt, alles selbst machen zu müssen, um erfolgreich zu sein, überfordert sich und andere. Glück lässt sich nicht erzwingen.

Interviewer: Kann man überhaupt in vielen Dingen perfekt sein oder zeichnet den Menschen nicht gerade aus, dass er neben seinen Stärken auch Schwächen hat? Und ausgerechnet die Schwächen machen ihn womöglich sogar sympathisch…
Ulrich Kober: Der klassische Protestant würde den Menschen immer in seiner Ambivalenz sehen – zugleich „Gerechter“, also perfekt, und „Sünder“, also mit Schwächen. Der klassische Katholik oder Muslim sieht im Menschen stärker das Potenzial für „Heiligkeit“ bzw.  Perfektion: Tatsächlich trägt jeder Mensch positive und ungeahnte Möglichkeiten in sich. Ob Schwächen den Menschen immer sympathisch machen, kommt sehr darauf an, um welche es sich handelt: Überheblichkeit oder Gewalttätigkeit sind zum Beispiel alles andere als sympathisch. Aber wer um seine Schwächen weiß und seine Grenzen annimmt, kann gelassener werden. Paulus spricht sogar davon, dass ihn die Schwäche stark macht – klingt paradox, lässt sich aber nachvollziehen: Wenn man nicht mehr allein auf sich selbst vertrauen muss, kann man sich für anderes öffnen – und diese Erfahrung mobilisiert neue ungeahnte Kräfte.

Interviewer: Einfach auch mal lockerlassen und Stärken stärken statt Schwächen ausbügeln. Könnte das das bessere Rezept sein?
Ulrich Kober: Das ist sicher eine kluge Strategie, bei den eigenen Stärken anzusetzen und diese weiterzuentwickeln – gerade in der Pädagogik im Umgang mit Heranwachsenden. Aber auch Schwächen sind Chancen: Chancen auf Wachstum mit Hilfe von liebevollen Menschen, Chancen, neue Perspektiven zu entwickeln und selbstgesetzte oder fremdbestimmte Begrenzungen zu überwinden.

Interviewer: Ist das nicht auch gesünder, weil dann wieder Platz für Muße, Spiritualität und ähnliche Dinge entstünde?
Ulrich Kober: Spiritualität kann in allen Dingen entstehen. Das lehren christliche Mystiker wie Ignatius von Loyola, aber auch Mystiker anderer Religionen und Weltanschauungen: In Stärken wie in Schwächen, im Erfolg wie im Scheitern lässt sich eine tiefere Dimension des Daseins erfahren, die uns über uns selbst hinausweist und religiöse Menschen auf Gott verweist. Gelassenheit entsteht vor allem durch die Erfahrung, angenommen zu sein mit Stärken und Schwächen, geliebt zu werden, so wie ich bin. Das Glück, sich unbedingt geliebt zu fühlen, ist die beste Medizin gegen unselige Perfektions- und Optimierungszwänge, die ich mir selbst oder andere mir auferlegen.

 

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