Wenn die Nacht zum Tag wird: Schichtarbeit hat es in sich

Morgens mit den Hühnern aufstehen und Feierabend machen, wenn die Sonne untergeht – so in etwa regelte die innere Uhr früher unsere Arbeitszeiten. Doch längst ist Schicht- und Nachtarbeit in den Alltag vieler Menschen eingekehrt – und damit eine besondere Herausforderung für den Organismus. Schichtarbeit leisten aktuell etwa 17 Prozent der Arbeitnehmer, ihre Anzahl ist auf rund 6 Millionen angestiegen. Die zunehmende Tendenz führt das Bundesarbeitsministerium vor allem auf die Beschäftigungszunahme in der Pflegebranche mit ihren Rund-um-die-Uhr-Einsätzen zurück. Ähnliches gilt für den Medizinbetrieb und den Sozialsektor. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin beobachtet die Zunahme von Schicht-, Nacht-, und Wochenendarbeit mit Sorge. Wer nachts und am Wochenende arbeite, trage ein erhöhtes gesundheitliches Risiko, denn er kämpfe gegen den natürlichen biologischen Rhythmus an. Vor allem nach mehreren Jahren stellten sich häufig Beschwerden wie Schlafstörungen, Verdauungsstörungen, Nervosität und Reizbarkeit ein. Wochenendarbeit könne zu ähnlichen Symptomen führen. Die Gesellschaft sei darauf eingestellt, sich am Wochenende mit Freunden und Familie zu erholen. Wer daran nicht teilnehmen könne, den stresse das. „Schichtarbeit stellt einen besonderen Risikofaktor dar, insbesondere dann, wenn zusätzlich auch Nachtarbeit geleistet wird“, hat auch Prof. Dr. Friedhelm Nachreiner festgestellt (s. Interview). Der Arbeitspsychologe, der sich wissenschaftlich mit dem Thema Schichtarbeit beschäftigt, sieht die „Desynchronisation mit bestehenden Zeitstrukturen“ als Hauptursache. „Der Biorhythmus des Menschen ist von Natur aus tagsüber auf Aktivität eingestellt und nachts auf Ruhe und Schlaf. Deshalb ist Schicht- und Nachtarbeit wegen der vorgegebenen verminderten Leistungsbereitschaft anstrengender als die normale Tagschicht.“ Man kann den Körper aber mit einer ausgewogenen Ernährung bei diesem Kraftakt unterstützen. Dabei sollten reichlich Kohlenhydrate und Ballaststoffe auf dem Speiseplan stehen, die beispielsweise in Reis, Nudeln und Gemüse enthalten sind, sagen die Fachleute. Schichtarbeiter haben zwar keinen erhöhten Kalorienbedarf, aber neben der Zusammenstellung der Mahlzeiten kommt es besonders auf das richtige Timing an. Der Ratschlag der Deutschen Gesellschaft für Ernährung: Fünf oder für Nachtarbeiter besser sechs kleinere Mahlzeiten, so bleiben Blutzuckerspiegel und Leistungsbereitschaft auf einem hohen Niveau. In der Nachtschicht zwischen 0 und 1 Uhr tut dem Körper ein bekömmlicher Energieschub gut, aus dem frühmorgendlichen Tief gegen 3 Uhr helfen Obst oder Vollkornkekse. Als hilfreich hat sich darüber hinaus erwiesen, wenn man die Hauptmahlzeiten zur ungefähr gleichen Tageszeit zu sich nimmt. Statt der Müdigkeit mit Zigaretten, Kaffee und anderen koffeinhaltigen Getränken zu begegnen, sollte man Alternativen wie Mineralwasser, Saftschorlen und ungesüßte Früchtetees zurückgreifen. Gegen zwei bis drei Tassen Kaffee täglich ist allerdings auch nichts einzuwenden. Jedoch sollte man vier bis sechs Stunden vor dem Zubettgehen auf Kaffee ebenso verzichten wie auf üppige Mahlzeiten. Und wie ist es mit dem Schlaf? Schlafmittel oder Alkohol zum schnelleren Abschalten einzusetzen, ist wegen der Suchtgefahr auf keinen Fall ratsam. Besser ist beispielsweise ein bisschen Bewegung an der frischen Luft – so wie bei den Hühnern, die man womöglich dabei hört. Die sind dann allerdings gerade aufgestanden …

„Negative Auswirkungen minimieren“
Viele Menschen, nicht zuletzt in sozialen Berufen, sind in Schichtarbeit eingebunden. Worin bestehen die besonderen Belastungen, wie kann man dagegen angehen? MENSCH sprach darüber mit dem Arbeitspsychologen Prof. Dr. Friedhelm Nachreiner aus Oldenburg, der sich seit Langem wissenschaftlich mit dem Thema Schichtarbeit beschäftigt.
Wie weit verbreitet ist Schichtarbeit in Deutschland? Prof. Nachreiner: Im Zeitraum von 2001 bis 2011 ist eine Zunahme an Beschäftigten zu verzeichnen, die in Schichtmodellen arbeiten. Ihre Anzahl stieg in diesem Zeitraum von 4,8 auf 6 Millionen. Dies entspricht einem Zuwachs um 24 Prozent. Insgesamt arbeiten ca. 17 Prozent der Erwerbstätigen in Schichtarbeit. Zwar arbeiten immer noch häufiger Männer in Schichtmodellen als Frauen, doch der Abstand hat sich reduziert.
Wie sieht es speziell im Sozialbereich aus? Prof. Nachreiner: Dienstleistungen und insbesondere soziale Berufe gehören zu den am häufigsten betroffenen. Frauen sind hier bekanntlich überproportional vertreten. Ist Schichtarbeit ungesund? Prof. Nachreiner: Es ist belegt: Schichtarbeit stellt einen besonderen Risikofaktor dar, insbesondere dann, wenn dabei auch noch Nachtarbeit geleistet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sogar in einem Urteil von 1992 betont, „dass Nachtarbeit grundsätzlich für jeden Menschen schädlich ist“.
Was belastet den Organismus besonders? Prof. Nachreiner: Die Desynchronisation mit bestehenden Zeitstrukturen wie Biorhythmus und sozialer Rhythmus, um es wissenschaftlich auszudrücken. Typische Schichtarbeitssymptome sind Schlafbeschwerden, Appetit- und Verdauungsstörungen sowie psychovegetative Störungen. Auch über Beeinträchtigungen des sozialen und familiären Lebens berichten Schichtarbeitende häufig. Entsprechende Gestaltungsmaßnahmen sollten dazu beitragen, diese negativen Auswirkungen von Nacht- und Schichtarbeit zu minimieren. Hilfsmittel für geeignete Gestaltungsmaßnahmen finden sich auch im Internet, zum Beispiel unter: >> http://inqa.gawo-ev.de/cms/
Was kann man tun, um die negativen Auswirkungen abzumildern? Prof. Nachreiner: Betroffene, die auf ihre Schichtarbeit und das damit verbundene soziale und gesundheitliche Risiko angesprochen werden, antworten häufig: „Diesen Schichtplan fahren wir schon jahrelang, man hat sich dran gewöhnt!“ oder auch: „Da muss man mit fertig werden, da kann man nichts machen, irgendwie muss das Geld ja verdient werden!“ Kann man wirklich nichts machen, um das Risiko zu minimieren? Doch, man kann! Laut Arbeitsschutzgesetz sind Gefahren an ihrer Quelle zu bekämpfen! Das bedeutet, nicht der Mensch soll sich an schlechte Arbeitsbedingungen anpassen müssen, sondern die Arbeitsbedingungen müssen an den Menschen mit seinen biologischen und psychosozialen Voraussetzungen angepasst werden. Somit ist ein schlecht gestalteter Schichtplan eine Gefahrenquelle und sollte zuerst beseitigt werden. Ein gesunder Schlaf, eine gute Ernährung, ausreichend Bewegung – das sind nur einige Bereiche, in denen jeder Schichtarbeitende auch selbst etwas tun kann. Es ist wie immer: Wer aktiv etwas für seine Gesundheit und sein psychosoziales Wohlbefinden tut, kann die negativen Auswirkungen ganz erheblich vermindern.
Müsste der Gesetzgeber noch mehr regeln? Prof. Nachreiner: Ja, vor allem die Ausnahmegenehmigungen, zum Beispiel zur Verkürzung der Ruhezeiten, rausnehmen.

So fällt das Einschlafen nach der Nachtschicht leichter. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gibt dazu folgende Tipps:
• Einige Stunden vor dem Schlafengehen keinen Kaffee oder schwarzen Tee mehr trinken, da sich die wach haltende Wirkung von Koffein negativ auf den Schlaf auswirkt.
• Vor dem Schlafengehen eine kleine bekömmliche Mahlzeit zu sich nehmen und die Hauptmahlzeit nach dem Aufstehen verzehren. Als leichter Snack eignen sich Milchprodukte und Obst.
• Nicht sofort nach der Arbeit ins Bett gehen. Lieber einen kurzen Spaziergang zum Abschalten unternehmen oder die Zeitung lesen.
• Trotz Einschlafschwierigkeiten sollte Alkohol tabu sein. Er hilft zwar beim Einschlafen, beeinträchtigt aber das Durchschlafen und kann zur Gewöhnung führen.